„Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“, sagte Friedrich Nietzsche.
Ein Student von mir sah den Film „Life Overtakes Me“, der die Geschichte von Flüchtlingskindern in Schweden erzählt, die sich wegen der Unsicherheit ihres rechtlichen Status in eine komaähnliche Krankheit namens „Resignationssyndrom“ zurückziehen. Der Student wunderte sich, wie es dazu kommt, dass Kinder den Tod dem Leben vorzuziehen scheinen, obwohl die Angst vor dem Tod angeblich das tiefste, ursprünglichste Gefühl ist.
Ich denke, mein Student hat sich hier geirrt: Die Angst vor dem Tod ist nicht die grundlegendste Angst, sondern vielmehr die Angst vor dem Leben, oder besser gesagt, die Angst vor einem Leben ohne Sinn!
In dem Moment, in dem wir leben, ohne einen Sinn zu haben, der höher ist als das Leben selbst, sinken wir in einen Zustand ab, der unterhalb des Lebens liegt. Tiere haben keine solchen Fragen; sie existieren einfach, weil sie ihren Instinkten folgen. Deshalb ist für sie Existenz gleich Leben.
Die Menschen hingegen müssen wissen, warum sie tun, was sie tun. Andernfalls haben sie keine Motivation zu handeln, und es kommt zu allen möglichen regressiven Phänomenen, von Drogenmissbrauch über Depressionen bis hin zum Resignationssyndrom und zum Selbstmord. Der Grund, warum Selbstmord und andere selbstverletzende Verhaltensweisen bei Menschen so häufig und bei Tieren so selten sind, liegt darin, dass Menschen ein Ziel, einen Lebenssinn benötigen, Tiere hingegen nicht. Ein sinnloses Leben ist schlimmer als der Tod, daher ziehen die Menschen den Tod der Sinnlosigkeit vor.
Gleichwohl ist das Gefühl, keinen Sinn im Leben zu haben, ein starker Motor. Es bringt uns dazu, alles in Frage zu stellen. Die größten Entdeckungen der Menschheit wurden gemacht, als die Menschen Antworten auf das Leben suchten.
Heute scheint der Mensch alles zu haben, was er braucht, um ein gutes Leben zu führen, aber er hat keinen Grund zu leben. Deshalb stellt er sich die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Diese Frage ist die wichtigste Frage, die man sich stellen kann, denn die Antwort liegt nicht in uns, sondern zwischen uns. Der Grund für unsere Existenz ist unser Wert in dem Netzwerk, das die Menschheit umfasst. Jeder von uns ist ein einzigartiger Teil dieses Netzwerks, und niemand kann die Lücke füllen, die entsteht, wenn einer von uns fehlt. Je größer unser Beitrag zur Stärke des Netzes ist, desto größer ist unser Wert als Individuum.
Deshalb erkennen Soziologen und Psychologen inzwischen, dass der Schlüssel zum Glück in der Qualität unserer sozialen Bindungen liegt. Nur wenn wir positive soziale Bindungen haben, wenn jeder von uns sein Potenzial zum Nutzen des gesamten menschlichen Ökosystems ausschöpft, nur dann sind wir wirklich glücklich und leisten gleichzeitig einen Beitrag zu unseren Gemeinschaften, unseren Ländern und der Welt.
Wir können nur dann eine ausgewogene Gesellschaft aufbauen, deren Mitglieder zufrieden und glücklich sind, ohne andere Menschen oder die Umwelt auszubeuten, wenn sich jeder von uns um andere kümmert und wir unser Glück in der Verbindung mit anderen finden, wo wir unser persönliches Potenzial zum Wohle der Gesellschaft und der ganzen Welt verwirklichen können.