S. Vinokur: Der Mensch hat sich schon immer für seine innere Welt interessiert und versucht zu erkennen, wer er ist und was ihn zu seinen Handlungen antreibt.
Ich möchte einige Zitate von Siegmund Freud vorlesen.
Freud drückte es so aus: „Wir suchen uns nicht zufällig jemanden aus. Wir treffen nur diejenigen, die bereits in unserem Unterbewusstsein existieren“.
M. Laitman: Natürlich. Sonst sehen wir die anderen nicht. Ich sehe und reagiere nur auf das, was schon in mir bereitliegt.
S. Vinokur: Wählen wir auch unsere Partner auf diese Weise aus?
M. Laitman: Ja, es ist eigentlich alles schon vorgegeben.
S. Vinokur: Noch ein Freud Zitat: „Die Aufgabe, den Menschen glücklich zu machen, gehörte nicht zum Schöpfungsplan.“
M. Laitman: Egoistisch gesehen, nein. Den Menschen in dem Sinne glücklich zu machen, wie er es in unserer Welt begreift – nein. Auf keinen Fall! Im Gegenteil, es ist die Aufgabe des Schöpfers, dem Menschen zu zeigen, dass er in der Welt unglücklich ist, um ihn zu ermutigen, sich auf die Ebene des wahren Glücks zu erheben.
S. Vinokur: Er fuhr fort: „Wir betreten die Welt einsam und verlassen sie einsam.“
M. Laitman: Nun, das ist eine ziemlich abgedroschene Wahrheit, die jeder versteht.
S. Vinokur: Aber stimmt sie?
M. Laitman: Ich glaube nicht, dass wir die Welt einsam betreten, denn wir sind instinktiv mit dem Organismus verbunden, aus dem wir stammen. Aber wir verlassen die Welt völlig einsam. Und wenn wir uns im Alter unserem normalen Tod nähern, fühlen wir uns in Erwartung des Todes bereits völlig losgelöst von den anderen und einsam.
S. Vinokur: Und was wäre, wenn man, sagen wir, die Wissenschaft der Kabbala studieren würde?
M. Laitman: Nun, die Kabbala verbindet den Menschen mit der gesamten Schöpfung, mit allen Seelen, der Vergangenheit und der Zukunft, über der Zeit. Das ist also schon etwas ganz anderes, nicht im Sinne von Siegmund Freud.
S. Vinokur: Er fuhr fort: „Du hörst nicht auf, im Außen nach Stärke und Zuversicht zu suchen, du musst aber in dich hineinschauen. Sie waren immer schon da.“
M. Laitman: Es gibt keine Stärke im Menschen. Es gibt nur eine winzig kleine, egoistische Kraft, durch die er begreifen muss, dass er völlig machtlos ist und dass er die wahre Kraft nur vom Schöpfer bekommen kann. Und vom Schöpfer erhält er sowohl die egoistische Kraft, die hart und sehr dunkel ist, als auch die altruistische Kraft, die hell und erhaben ist.
Und mit Hilfe dieser beiden Kräfte geht er, wie auf zwei Beinen, die Leiter hinauf und klettert zu einem Zustand absoluter Glückseligkeit, wo diese beiden gegensätzlichen Kräfte zusammenkommen und seine Seele bilden.
S. Vinokur: „Es ist typisch für den Menschen, dass er vor allem das begehrt, was er nicht erreichen kann.“
M. Laitman: Im Allgemeinen, natürlich. Denn in unseren irdischen Verhältnissen können wir nicht alles erreichen. Wir sind begrenzt. Ich bin ein Mann, keine Frau. Ich wurde unter bestimmten Umständen geboren. Ich bin kein Künstler, kein Dichter, kein Schriftsteller, kein großer Wissenschaftler, kein Milliardär, usw. Alles, was ich bin, ist im Grunde genommen „ich bin nicht…, ich bin nicht…, ich bin nicht….“
Es gibt so viele Beschränkungen, wenn man sich selbst verwirklichen will. Aber auch das ist nur in unserer Welt so. Und doch hat der Mensch Zugang zu einer höheren Welt, der Welt der Kabbala, und dort kann er alles erreichen – die Welt der Unendlichkeit. Dort bekommt er vor allem die enormen Sehnsüchte, die es nur in der höheren Welt gibt, und er erfüllt sie alle. Deshalb nennt man sie „die Wissenschaft des Erfüllens“ – die Wissenschaft der Kabbala.
S. Vinokur: Und noch eine sehr interessante Aussage von Freud: „Bevor Sie sich selbst mit Depressionen und geringem Selbstwertgefühl diagnostizieren, stellen Sie sicher, dass Sie nicht von Idioten umgeben sind.“
M. Laitman: Es ist eine Tatsache, dass man sich immer im Verhältnis zu anderen bewertet. Aber das ist nicht genug. Wir leben heute in einer Welt, in der wir anfangen, uns extrem deprimiert zu fühlen. Nicht einmal mit Blick auf die Menschen um uns herum.
Diese Depression wird nicht mehr in Bezug auf die Menschen um uns herum gemessen. Sie wird in Bezug auf die nächste Stufe gemessen, die wir erklimmen müssen. Und deshalb reicht es nicht aus, auf die Menschen um sich herum zu schauen.
Was ist also, wenn sie leiden oder nicht? Und was ist mit mir? In diesem Fall ist mein Selbst bereits aus der allgemeinen Gesellschaft herausgefallen und bedarf einer eigenen, besonderen, persönlichen Verwirklichung. Und da hilft es mir auch nicht mehr, auf die anderen zu schauen, unter was für Idioten ich mich befinde, dass ich über ihnen stehe und nicht in Depressionen zu versinken. Meine Depression ist nicht ihretwegen.
Die Depression ist wegen des wahren Wunsches in mir, auf die nächste Stufe aufzusteigen, mich nicht mit ihnen, mit denen um mich herum zu verwirklichen, sondern mit dem Schöpfer, mit der höheren Stufe. Wenn ich den wahren Sinn der Existenz erkenne, erkenne ich mich selbst auf der Ebene der Ewigkeit, der Unendlichkeit, der Vollkommenheit. Das ist es, was in uns ist. Das ist der Grund, warum die Welt heute in einer solchen Depression versinkt. Dieser Freud´sche Ratschlag funktioniert also nicht mehr.