Die Bedeutung von Heimat und Gemeinschaft
Der Dichter Shaul Tschernichowski sagte einst: „Der Mensch ist ein Abdruck seiner Heimat.“ Diese Worte betonen die tiefe Prägung, die das Umfeld, in dem wir aufwachsen, auf uns hinterlässt. Doch wie verändert sich dieses Zugehörigkeitsgefühl im Laufe der Geschichte, und welche Auswirkungen hat es auf unser heutiges Leben?
Der Zusammenhalt der frühen Gemeinschaften
In früheren Generationen lebten die Menschen in engen, gemeinschaftlichen Strukturen, die einer Art großer Familie oder Kommune ähnelten. Diese Gemeinschaften bestanden aus mehreren Generationen, die zusammenlebten, arbeiteten und ihre Ressourcen teilten. Es war ein Miteinander, das von starker emotionaler Bindung und einem ausgeprägten Gefühl der Zugehörigkeit geprägt war. Der Mensch empfand sich als Teil eines Ganzen, in dem jeder füreinander verantwortlich war. Blutsverwandtschaft und gemeinsame Lebensweisen schufen das Fundament dieser Gemeinschaften, die als „beste Umgebung“ galten.
Das Wachsen des Egos und die Entstehung der Dörfer
Mit der Zeit begann sich das menschliche Ego zu entwickeln, und die wachsende Selbstständigkeit führte zu einer schrittweisen Veränderung der Lebensweise. Neue Werkzeuge und Technologien ermöglichten es den Menschen, sich selbst zu versorgen. Dieser Fortschritt führte jedoch auch dazu, dass die Menschen begannen, sich voneinander abzugrenzen. Zwar lebten sie weiterhin in Dörfern, doch ihre Beziehungen veränderten sich. Die Nachbarn waren oft Verwandte, und manchmal bestand ein ganzes Dorf aus Mitgliedern einer großen Familie, die dieselben Interessen und Lebensstile teilten. Doch das wachsende Ego schuf Distanz und veränderte die Dynamik.
Die Rolle des „Hofs“ als Zentrum des Lebens
Noch vor wenigen Jahrzehnten war der „Hof“ ein zentraler sozialer Raum in der Entwicklung eines Kindes. Dieser Hof – ein Bereich vor dem Haus oder zwischen Wohngebäuden – war der Ort, an dem Kinder ihre ersten sozialen Erfahrungen machten. Sie lernten voneinander, spielten gemeinsam und entwickelten ein Verständnis für Gut und Böse. Der Hof fungierte als eine Art „erste Universität“ für das Kind und war ein entscheidender Raum für die soziale Prägung. Hier wurden Traditionen und Werte weitergegeben und die ersten Freundschaften geschlossen.
Der Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zerfall der Gemeinschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu massiven Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur. Großstädte mit Millionen von Einwohnern wuchsen heran, und die Menschen lebten zunehmend in anonymen Nachbarschaften. In dieser neuen urbanen Umgebung gingen die engen Bindungen verloren, die in Dörfern und kleineren Gemeinschaften noch bestanden. Die Individualisierung nahm zu, und es wurde schwieriger, enge nachbarschaftliche Verbindungen aufrechtzuerhalten. Kinder hatten oft keine Spielplätze mehr in den Höfen, und der Austausch zwischen den Generationen und Nachbarn wurde selten.
Die Krise der modernen Welt: Die geschlossene Gemeinschaft
Seit den 1960er-Jahren hat sich diese Entwicklung weiter verstärkt. Das wachsende Streben nach Individualismus führte dazu, dass Menschen sich nicht nur von ihren Gemeinschaften, sondern auch zunehmend von ihren eigenen Familien entfremdeten. Gleichzeitig verloren viele das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort oder einer kulturellen Identität. Die moderne Welt ist „geschlossen“ geworden, aber nicht auf die gleiche Weise wie die ursprünglichen Gemeinschaften. Diese neue Geschlossenheit ist nicht freiwillig entstanden, sondern hat sich durch Globalisierung und Digitalisierung entwickelt. Die Menschen fühlen sich heute oft isoliert und entfremdet, obwohl sie gleichzeitig in einer vernetzten Welt leben.
Dieses Paradox führt zu einer großen Krise der gegenseitigen Abhängigkeit. Es ist, als ob wir in eine Art „Ehe“ gezwungen wurden, die wir nicht wollten. Die Prinzipien der Gemeinschaft scheinen über uns zu schweben und uns dazu zu zwingen, zu den gleichen Werten und Verbindungen zurückzukehren, die einst existierten. Diese erzwungene Nähe macht uns unwohl und führt dazu, dass sich jeder weiter in seine eigene „Schale“ zurückzieht.
Der Weg zu neuen Verbindungen
Die moderne Gesellschaft steht nun vor der Herausforderung, freiwillige und positive Verbindungen zu schaffen. Es geht darum, wieder ein Gefühl der gegenseitigen Unterstützung und Verantwortlichkeit zu entwickeln, das in den frühen Gemeinschaften so stark ausgeprägt war. Nur so können wir die negativen Folgen dieser „geschlossenen Welt“ überwinden und eine bessere Zukunft gestalten.
In einer Zeit, in der die gegenseitige Abhängigkeit unbestreitbar ist, müssen wir lernen, unsere Verbindungen bewusst und mit Bedacht zu pflegen. Denn, wie es weise heißt: „Der Kluge sieht im Voraus, was sich am Horizont abzeichnet.“ Dies könnte uns helfen, die Herausforderungen der modernen Welt zu meistern und eine Gesellschaft zu schaffen, die auf echten und freiwilligen Bindungen beruht.
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Aus dem Gespräch über ein neues Leben. Geschrieben/bearbeitet von Student*innen des Kabbalisten Michael Laitman.