Semion Vinokur: Ein Mensch wählt nicht aus, wann und in welcher Familie er geboren wird, ob er krank oder gesund, reich oder arm sein soll… Dies geschieht einer höheren Absicht entsprechend, der Mensch hat keinen freien Willen.
Jonathan Swift sagte: „Für all die Freude und Unterhaltung werden wir mit Leid und Sehnsucht belohnt.“
M. Laitman: Aus kabbalistischer Sicht ist es nicht so. Denn wenn ein Mensch nicht aus freiem Willen geboren wird, seine Familie nicht aussucht, eine wunderbare Erziehung genießt, alles hat, was er benötigt, weil seine Familie wohlhabend ist, und so weiter und so fort, kann man nichts von ihm verlangen. Er wurde so nach der höheren Absicht erschaffen.
Frage: Hat er keine Freiheit?
M. Laitman: Nein, natürlich nicht. Er ist für nichts verantwortlich. Erst wenn der Mensch die Gelegenheit bekommt, sich neu zu orientieren, wird man ihn danach fragen. Aber auch nur in dem Maße, wie ihm diese Möglichkeit tatsächlich gegeben wurde.
Alle Menschen, die es in unserer Welt gibt, ob reich oder arm, gesund oder krank, so wie sie existieren, so existieren sie.
Es dürfen keine Anforderungen an sie gestellt werden.
Frage: Und wie ist es, wenn wir trotzdem Anforderungen stellen? Wie beurteilen wir Menschen?
So urteilen sie mit ihren Gerichten. Sie setzen die Gerichte ein, um zu urteilen. Kann man Menschen beurteilen? Wozu?! Was ich vom Schöpfer habe, der mich auf diese Weise erschaffen hat, und von den Eltern, die vom Schöpfer erschaffen wurden, damit sie mich auf diese Weise beeinflussen. Nun, wer bin ich? Wo habe ich meinen Punkt – einen Punkt der Freiheit, den ich nutzen und von da aus wachsen kann? Wie kann ich wissen, wie? Und warum sollte ich wissen, wie?
Was hat der Mensch, das ihm nicht von der Natur gegeben wurde? Und wie kann er sich dann selbst verändern? Wenn ich mich ändern muss, dann muss ich einen Hebel haben. Welche Willensfreiheit hat der Mensch? Wo ist sie? Es gibt keinen freien Willen.
Man kann nicht auf eine freie Bewegung seines freien Willens, seiner freien Verlangen, seiner freien Gedanken verweisen, die man nicht von jemandem, nicht von etwas bekommen hat, sondern die irgendwie aus dem Nichts auftaucht. So etwas gibt es nicht! Deshalb ist der Mensch nicht frei.
Bemerkung: Das heißt, ich bin von der Natur erschaffen, und die Natur führt mich vom Anfang bis zum Tod.
M. Laitman: Absolut. Sogar mit der Illusion der Freiheit.
S. Vinokur: Sie spielt mit mir, sie gibt mir die Illusion von Freiheit…
M. Laitman: Mit Absicht, ja, um dir Selbstgefühl zu geben…
Die Freiheit offenbart sich nur dann, wenn im Menschen noch eine andere Kraft entsteht, eine höhere Kraft, die beginnt, seiner irdischen Kraft entgegenzuwirken.
Und nur in dem Unterschied zwischen ihnen, in dem Intervall zwischen ihnen, kann ein Mensch Unabhängigkeit von diesen beiden Kräften erlangen und frei wählen.
Nur wenn es ein Bedürfnis nach dem Sinn des Lebens gibt. Der Sinn des Lebens kann nur in der Suche nach Unabhängigkeit offenbart werden. Es geht nicht darum, so zu sein wie die anderen, die reicher sind usw. Lass dir kein Beispiel von anderen geben! Ich brauche ein „Ich“.
S. Vinokur: Mein “Ich”, ist völlig anders ist als bei diesen Reichen oder Armen, oder?
M. Laitman: Ja. Aus der Tatsache heraus, dass er versteht, dass er nicht frei ist, beginnt er danach zu suchen: was ist Freiheit? Dabei versteht er, dass die Freiheit vor allem darin besteht, sich über seinen Egoismus zu erheben, der ihn völlig ausfüllt, ihn unterjocht. Und obwohl der Mensch diesen Egoismus nicht loswerden kann, möchte er es doch gerne!
Und wenn er es nicht kann, aber trotzdem will, dann findet er eine Gelegenheit, eine fremde Kraft an sich zu ziehen, die ihn aus diesem Egoismus herauszieht, sogar im Gegensatz zu seinen Bemühungen, im Egoismus zu bleiben. Ich will nicht aus diesem Egoismus herauskommen, und richte es so ein, dass mich diese höhere Kraft dennoch herauszieht. Hier gibt es einen interessanten Haken!
S. Vinokur: Ich komme also an den Punkt, an dem ich nicht mehr aus dem Egoismus aussteigen will?
M. Laitman: Natürlich will ich das nicht! Niemand will das! Niemand. Bei all diesen spirituellen Stufen will das niemand.
S. Vinokur: Er hat so lange gebraucht, um dorthin zu gelangen, warum will er das nicht?
M. Laitman: Wie ist er dorthin gelangt? Er hat nichts begriffen. Und jetzt, wenn er offenbart, wie egoistisch er ist, kann er es nicht. Das kann er nicht. Wie kann er sich davon lösen?
S. Vinokur: Er ist ihm also sehr kostbar, dieser Egoismus, nicht wahr?
M. Laitman: Ja. Es sind die Leiden des Auszugs aus Ägypten, die Überquerung des Roten Meeres. Es passiert, weil du völlig unvernünftigen Handlungen tust, und sie holen dich raus. Und dann: „Ich will es nicht, ich will es nicht!“ – es ist aber schon zu spät.